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Das Magazin der Berner Haus- und Kinderärzt:innen

Lesedauer ca. 5 Min.

Die Not mit dem hausärztlichen Notfall

Politik

Die Not mit dem hausärztlichen Notfall

Dank einer Vereinbarung der Tarifpartner hat das Thema «Notfall» zum Jahreswechsel zwar vorübergehend etwas an Brisanz verloren. Es bleibt aber dringlich. Die Rahmenbedingungen der haus- und kinderärztlichen Notfalldienste haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert – was sich zeitnah auch in der Abgeltung und Regelung der Dienste abbilden muss. Die entsprechenden Arbeiten laufen, können aber nur mit dem gemeinsamen und konstruktiven Willen aller Verantwortlichen zu einem guten und zukunftsfähigen Ende gebracht werden.

250 Haus- und Kinderärzt:innen wollten am traditionellen politischen Roundtable anlässlich des PraxisUpdateBern Antworten auf Fragen zum Notfalldienst: Wo stehen wir bei den ganzen Turbulenzen rundum das Thema Notfallpauschalen für Haus- und Kinderärzt:innen? Wie finden wir zu einer gemeinsamen Verantwortung? Und wer soll eigentlich welche Rolle übernehmen? Unter der Leitung der Moderatorin Cynthia Ringgenberg diskutierten Monika Reber, Hausärztin aus Langnau und Co-Präsidentin von mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz, Gregor Kaczala, Leiter von Medbase Bern und Vorstandsmitglied im VBHK, Christoph Kilchenmann, stellvertretender Direktor von prio.swiss, und Fritz Nyffeneggger, Vorsteher des Gesundheitsamts des Kantons Bern.

Das Thema «Notfalldienst» darf getrost als ein «Hot Topic» der ärztlichen Grundversorgung bezeichnet werden. Das gilt für den Dienst an sich, für die Belastung mit den Dienstpflichten, die je nach Region sehr gross ist. Schon länger sind die Dienste vor allem in Randregionen ein erhebliches Problem: Immer weniger Hausärzt:innen teilen sich den Notfalldienst für immer mehr Einwohner:innen. Die regional unterschiedliche Regelung des Notfalldienstes ist deshalb in den letzten Jahren zu einem wesentlichen Standortfaktor geworden: Junge Hausärzt:innen schauen sehr genau, unter welchen Bedingungen sie in einer Region Notfalldienst zu leisten haben oder eben nicht.

Viel zu reden gab jüngst auch die finanzielle Abgeltung von Notfalldiensten und dringlichen Konsultationen. Auslöser dafür waren zwei Urteile des Bundesgerichts zur Abrechnung der Notfall- bzw. Dringlichkeitspauschalen. Die Krankenversicherer nahmen die beiden Bundesgerichtsurteile zum Anlass, teilweise horrende Geldsummen von Praxen zurückzufordern mit dem Argument, diese hätten Pauschalen für dringliche Konsultationen und Notfälle in den letzten Jahren ungerechtfertigterweise abgerechnet. Von den Rückforderungen betroffen waren nicht nur Notfallpraxen, Permanencen oder Grosspraxen, sondern auch kleinere Gruppenpraxen bis hin zu Einzelpraxen.

Das Ergebnis: immense Verunsicherung darüber, was noch abgerechnet werden darf und was nicht mehr, und vor allem bisweilen existenzielle Sorgen um die finanzielle Zukunft der Praxis. Zahlen aus ärzteeigenen Datenpools zeigen, dass die Haus- und Kinderärzt:innen im letzten Quartal 2024 rund 25% weniger Notfall- und Dringlichkeitspauschalen abgerechnet haben als in der Vorjahresperiode. Aus lauter Angst vor Rückforderungen, und nicht etwa, weil die Leistung nicht erbracht worden wäre.

Das Thema Notfall bleibt dringlich
Die FMH und mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz konnten kurz vor Weihnachten mit den Tarifpartnern eine Vereinbarung abschliessen, die erheblich Zündstoff aus der Angelegenheit herausnahm. Vor allem sollte angestellten Ärzt:innen die Abrechnung der besagten Pauschalen nun doch gestattet sein (eine umstrittene Interpretation der entsprechenden Definition im Tarif wurde zeitgemässer ausgelegt). Und die Vertreter der Versicherungen erklärten sich bereit, ihre bis dahin grossflächige und aggressive Rückforderungspraxis insbesondere bei haus- und kinderärztlichen Einzel- und Gruppenpraxen anzupassen.

In der Folge haben sich die Tarifpartner im Rahmen weiterer Gespräche zudem darauf geeinigt, die Tarifpositionen zu Dringlichkeit und Notfall im neuen TARDOC noch einmal zu justieren.

Dank diesen Massnahmen ist es gelungen, den politischen «Notfall» für den Moment etwas zu entschärfen. Auf Seiten der Versicherungen sind noch nicht ganz alle Branchenmitglieder auf den Kurs von prio.swiss eingestiegen. Einzelne gehen noch immer sehr rigoros (und unbegründet) mit horrenden Rückforderungen auf einzelne Grundversorger:innen los.

Es bleibt zu hoffen, dass der neue Verband seine diesbezüglich konziliantere Haltung auch diesen Mitgliedern noch verständlich machen kann. Das Thema Notfall bleibt jedenfalls trotz der getroffenen Vereinbarungen ein Dringliches und muss mit der Einführung von TARDOC nun zwingend neu und angemessen geregelt werden.

Gesellschaftlicher und Strukturwandel tarifarisch nachvollziehen
Das hat auch die Diskussion am Roundtable gezeigt. Die Rahmenbedingungen des Notfalldienstes sind heute grundlegend andere als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die Ansprüche und Bedürfnisse der Bevölkerung und der Patient:innen an die ärztliche Notfallversorgung haben sich verändert. Allein die Wahrnehmung dessen, was individuell als Notfall empfunden wird, ist heute eine andere. 

Aber nicht nur diese Nachfrageseite hat sich stark gewandelt, sondern auch das Angebot. Heute decken ambulante Notfalleinrichtungen und Permanencen einen grossen und wichtigen Teil der Notfallversorgung ab. Das ist die Realität. Sie arbeiten mit anderen betriebswirtschaftlichen Modellen als die klassische Einzelpraxis früher, ebenso sind auch haus- und kinderärztliche Gruppenpraxen anders aufgestellt.

Wo der Dorfarzt früher einfach noch für seine Unannehmlichkeit («Inkonvenienz») entschädigt werden konnte, weil er nachts oder am Wochenende zu einem Notfall ausrücken musste, haben auch hausärztliche Praxen mit angestellten Ärzt:innen heute arbeitsrechtliche Vorgaben einzuhalten und müssen beispielweise Lohnzuschläge für Nacht- und Wochenendarbeit über die Tarife finanzieren können. Die haus- und kinderärztliche «Notfall-Landschaft» ist im Zuge von Struktur und gesellschaftlichem Wandel deutlich vielfältiger und heterogener geworden.

Die grosse Herausforderung wird darin bestehen, alle Modelle, die in ihrem Kontext einen echten und wertvollen Beitrag zur haus- und kinderärztlichen Grundversorgung leisten, angemessen und betriebswirtschaftlich korrekt für ihre Leistungen zu entschädigen.

Die Dienst- und Abgeltungsregeln für Not- und dringliche Fälle müssen sehr zeitnah den veränderten Rahmenbedingungen angepasst werden, damit der hausärztliche Notfalldienst weiterhin das sein kann, was ihn für die ganze Gesundheitsversorgung unverzichtbar macht: eine einfache, niederschwellige und kosteneffiziente Form der Erstversorgung. Dazu sollten wir alle Sorgen tragen – mindestens darin waren sich die Teilnehmenden auf dem Podium und im Publikum am Ende einig.