Medikamentenabgabe
Das «Berner Mischsystem» ist nicht mehr zeitgemäss
Sollen Ärzt:innen ihren Patient:innen im Kanton Bern uneingeschränkt Medikamente abgegeben dürfen oder nicht? Diese Frage sorgt schon länger für Diskussionen. Nun hat sie auch politisch hohe Wellen geworfen: Der Grosse Rat verlangt von der Regierung die Überprüfung und Anpassung des geltenden Mischsystems. Endlich, denn die bisherige Regelung ist nicht mehr zeitgemäss.
In einem Kleinstädtchen im Kanton Bern, gut gelegen inmitten einer sonst sehr ländlichen Region, pflegen die ansässigen Hausärzt:innen ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis mit der einzigen Apotheke im Ort. Die Zusammenarbeit funktioniert, man kennt und schätzt sich, auch persönlich, und das seit Jahren. Schliesslich stellt man gemeinsam die Grundversorgung im Ort und für die Umgebung sicher.
Dieses Auskommen ist nicht selbstverständlich, könnte man meinen, denn anders als an anderen Orten dürfen hier ausser der Apotheke auch die Hausärzt:innen Medikamente an ihre Patient:innen verkaufen, wenn letztere dies wünschen. Das war nie ein Problem für die Apotheke. Für die Praxen hingegen war und ist die Möglichkeit der so genannten Selbstdispensation im Kampf um Fachkräfte und Nacholger:innen ein nicht unwesentliches Argument, um junge Kolleg:innen zu überzeugen, hier im Ort ihre Praxistätigkeit aufzunehmen.
Dann eröffnet im Zentrum des Städtchens ein Grossverteiler sein neues Einkaufszentrum. Es beheimatet auch noch einen Coiffeursalon, den lokalen Velomechaniker, einen Blumenladen sowie das Dorfkafi und: eine kleine Filiale der konzerneigenen Apothekenkette. Was nach courant normal tönt, entpuppt sich für die Hausärzt:innen als einschneidend, denn: Mit der Eröffnung der kleinen Apothekenfiliale verlieren sie die Berechtigung, ihren Patient:innen die Medikamente weiterhin direkt abzugeben.
Stattdessen müssen sie diesen von nun an ein Rezept ausstellen und die Patient:innen die Medikamente in einer der beiden Apotheken beziehen. Damit verlieren die Praxen nicht nur erheblich Ertrag, sondern vor allem auch einen wichtigen Standortvorteil im Ringen mit dem sich zuspitzenden Hausarztmangel.
Weitreichende Konsequenzen für Hausärzt:innen
Der geschilderte Fall ist fiktiv, aber das Problem ist real. So oder ähnlich hat es sich in den letzten Jahren mehrfach im Kanton Bern zugetragen, und es hat in einzelnen Gegenden das vertraute Verhältnis zwischen Apotheker- und Ärzteschaft nachhaltig gestört. Die Ursache dafür ist die Art und Weise, wie der Kanton Bern die Medikamentenabgabe gesetzlich regelt.
Seit 1984 tut er dies über ein so genanntes «Mischsystem». Es sieht vor, dass Ärzt:innen überall dort eine so genannte Privat- oder Praxisapotheke führen und uneingeschränkt Medikamente abgeben dürfen, wo keine oder nur eine Apotheke ansässig ist. An Orten hingegen, wo es zwei oder mehr Apotheken gibt, ist den Ärzt:innen die direkte Medikamentenabgabe nur zur Erstversorgung, bei Hausbesuchen und in Notfällen gestattet. Dieses System hat unter anderem zur Folge, dass Ärzt:innen die Bewilligung zur Selbstdispensation verlieren, sobald zusätzlich zur im Ort bereits ansässigen Apotheke eine zweite Apotheke ihre Türen öffnet
Politischer Druck auf das Mischsystem
In einzelnen Orten hat genaue dieser Fall, die Eröffnung einer zweiten Apotheke mit entsprechender Konsequenz für selbstdispensierenden Ärzt:innen, hohe Wellen geworfen und jüngst auch den Grossen Rat auf den Plan gerufen. Ein erster Vorstoss wollte 2024 das Mischsystem ganz abschaffen und es allen Ärzt:innen erlauben, ihren Patient:innen uneingeschränkt Medikamente abzugeben – unabhängig von der Anzahl ansässiger Apotheken. Der Vorstoss stiess hinter den Kulissen lange vor der grossrätlichen Debatte auf erheblichen Widerstand. Daher wurde er von den Initiant:innen zugunsten einer «schwächeren» Variante zurückgezogen, die nun vom Grossen Rat in der Frühlingssession 2025 angenommen wurde.
Der Regierungsrat hat jetzt den Auftrag, «mit den Spitzen der Ärzte- und Apothekerschaft innert sechs Monaten Lösungen zu erarbeiten, um die Rahmenbedingungen […] zu klären und die Zusammenarbeit beider Partner mit Blick auf das Wohl der Patienten zu verbessern.» Insbesondere sei die Selbstdispensation «gemäss den Bedürfnissen der Regionen zu flexibilisieren und unter Berücksichtigung der Wahlfreiheit für die Patienten zu erwägen», so die Forderung der Initiant:innen. Damit ist klar: Der Grosse Rat will eine Überprüfung und Anpassung des seit 40 Jahren im Kanton Bern geltenden Mischsystems.
Anpassungen an Strukturwandel sind zwingend
Die mit der Motion angeregte flexible, teilregionale und teilweise Lockerung der Beschränkungen von Haus- und Kinderärzt:innen ist tatsächlich ein längst fälliger Schritt in die richtige Richtung. Die aktuelle Regelung macht weder aus medizinischer noch aus versorgungspolitischer Perspektive Sinn. Die Aufhebung der Benachteiligung von Haus- und Kinderärzt:innen in einzelnen Gemeinden und in Abhängigkeit vom Marktauftritt von Apotheken ist schlicht ein Zeichen der Zeit.
- Es ist nicht einzusehen, weshalb Patient:innen an Orten mit weniger als zwei Apotheken selbst entscheiden dürfen, wo sie ihr Medikament beziehen wollen, die Patient:innen an allen anderen Orten aber keine Wahlfreiheit haben. Es entspricht dem Wunsch vieler Patient:innen, ihr Medikament direkt in ihrer Praxis zu beziehen anstatt mit einem zusätzlichen Gang in der Apotheke. Wer das nicht möchte, bezieht das Medikament in der Apotheke, die Patient:innen entscheiden selbst.
- Die Verabreichung von Medikamenten an ihre Patient:innen gehört zur ärztlichen Tätigkeit und ist fester Bestanteil der Therapie. Die direkte Abgabe von Medikamenten stärkt die Beziehung zwischen Ärzt:innen und Patient:innen und sorgt für eine bessere Therapietreue: Ärzt:innen ist es besser möglich, die so genannte Compliance (das Einhalten von Regeln der Medikamenteneinnahme) zu überwachen.
- Die Berufs- und Kompetenzprofile haben sich verändert und tun dies weiterhin. Das ist wichtig und richtig angesichts der Herausforderungen und dem Potenzial der integrierten, interprofessionellen Versorgung. Die Apotheker:innen haben immer mehr bis anhin ärztliche Aufgaben übernommen (z.B. Impfen) und ihr Profil erweitert. Es ist folgerichtig und konsequent, dass Ärzt:innen im Gegenzug die direkte Medikamentenabgabe möglich gemacht wird.
- Zudem beobachten wir in den letzten Jahrzehnten in der medizinischen Grundversorgung auch einen einschneidenden Strukturwandel. In der ärztlichen Grundversorgung geht der Trend ungebrochen weiter von der Einzelpraxis zu immer mehr Gruppenpraxen und grösseren Praxiseinheiten, und bei den Apotheken haben in den letzten Jahren grosse Apothekenketten immer mehr Standorte übernommen oder neu eröffnet. Die Landschaft der Grundversorgung sieht heute sehr viel anders als zum Zeitpunkt der Einführung des Mischsystems.
- Ob an einem Ort die Medikamentenabgabe möglich ist oder nicht, ist ein wichtiger Standortvor- oder -nachteil. Viele Praxen, Gemeinden und Regionen haben Mühe, Nachfolgelösungen zu finden, wenn Haus- und Kinderärzt:innen ihre Tätigkeit aufgeben. Dass der Kanton eine Regelung aufrechterhält, die die Attraktivität eines Praxisstandorts (unter anderen) davon abhängig macht, ob und wie viele Apotheken ansässig sind, ist angesichts der sich zuspitzenden Unterversorgung nicht mehr länger zu rechtfertigen.
- In 15 Kantonen der Deutschschweiz ist die ärztliche Medikamentenabgabe uneingeschränkt möglich. Weder ist es in diesen Kantonen zu einem «Apothekensterben» gekommen noch gibt es Gräben zwischen Ärzt:innen und Apotheker:innen. Die interprofessionelle Zusammenarbeit funktioniert hier so gut wie andernorts. Es gibt auch keine eindeutige wissenschaftliche Evidenz, die klar für oder gegen das eine oder andere Modell spricht.
Kein Allheilmittel gegen Hausärztemangel
Eine grundlegende Überprüfung und Reform des Mischsystems ist also zwingend notwendig. Zu bedenken ist aber, dass die uneingeschränkte Medikamentenabgabe nicht als Allheilmittel gegen den Mangel an Haus- und Kinderärzt:innen missverstanden werden darf. Die Aufhebung oder Anpassung des Mischsystems zugunsten der Selbstdispensation hilft der unterversorgten Ortschaft, in der die Medikamentenabgabe bis dahin nicht zulässig ist, ihren Standortnachteil für haus- oder kinderärztliche Praxen auszugleichen. Die Kehrseite dieser Liberalisierung ist allerdings ganz nüchtern betrachtet: eine Ortschaft, in der die Ärztinnen selbst dispensieren können, verliert ihrerseits ebendiesen Standortvorteil, den sie jetzt hat. Zudem ist es nicht so, dass Kantone mit freier Medikamentenabgabe weniger stark mit Haus- und Kinderärzt:innenmangel zu kämpfen hätten als solche ohne.
Gegen den Mangel an Nachwuchs sind nach wie vor (auch) andere Massnahmen mit aller Konsequenz umzusetzen. Dazu gehört auch und insbesondere die adäquate tarifarische Abgeltung der haus- und kinderärztlichen Leistungen und die Aufhebung der finanziellen Benachteiligung im Vergleich zu anderen Fachrichtungen. Denn Haus- und Kinderärzt:innen wollen in erster Linie für ihre Arbeit an und mit den Patient:innen bezahlt werden und nicht darauf angewiesen sein müssen, über den Verkauf von Medikamenten die massiven Tarifverluste der letzten Jahrzehnte aufzubessern.