Carte Blanche
«Wie geht es Ihnen?» «Wie geht es mir?»
Regelmässig fragen wir unsere Patient:innen, wie es ihnen geht. Was meinen wir mit dieser Frage? Und: Fragen wir eigentlich auch uns selbst immer wieder, wie es uns geht?
Wir können nur dann gute Ärzt:innen sein, wenn es uns selbst gut geht. Unser eigenes Wohlbefinden stellt die Kraft für unser empathisches Interesse an den Patient:innen und, damit verbunden, für den therapeutischen Erfolg. Das ist uns grundsätzlich bekannt.
Unser Wohlbefinden zu bewahren ist hingegen nicht ganz einfach. Die Ansprüche an uns Hausärzt:innen weiten sich kontinuierlich aus. Wie fast überall in unserer Gesellschaft werden auch wir zu immer mehr Leistung in immer kürzerer Zeit und zu mehr Effizienz, was auch immer darunter verstanden werden soll, getrieben. «Citius, altius, fortius» - schneller, höher, stärker.
Die wachsenden medizinischen Möglichkeiten sind für uns eine stete Herausforderung. Diese nehmen wir mit Freude an, denn mit ihnen können wir immer mehr Menschen besser helfen. Die daraus resultierenden Ansprüche können diese Freude zugegebenermassen manchmal etwas dämpfen. Was uns jedoch besonders zusetzt, sind beispielsweise die Folgen des politisch (mit)verursachten Mangels an Ärzt:innen, ein überbordender administrativer Aufwand sowie eine zunehmend ökonomisch und defensiv orientierte Medizin. Diese Phänomene kosten uns viel Kraft und rauben uns wertvolle Zeit, die uns für die Arbeit mit den Patient:innen fehlt. Sie gefährden die Freude an unserer Arbeit und sind ein hohes Risiko für unser eigenes Wohlbefinden.
***
«Wie geht es Ihnen?»
Was meinen wir Ärzt:innen mit dieser Frage, wenn wir sie an unsere Patient:innen richten? Erwarten wir von ihnen, unter dem Druck der Zeitknappheit, eine kurze und stringente Antwort zum Symptom / Problem, weswegen sie sich zur Konsultation angemeldet haben oder wegen dessen wir sie bereits behandeln? – Eine «Kurzversion», die uns erlaubt, die Konsultation voranzutreiben.
Oder zeigen wir ihnen mit einladender Stimme und zugewandter Körpersprache ein umfassenderes Interesse? Bieten wir ihnen, falls nötig mit erweiternden und vertiefenden Zusatzfragen, die Möglichkeit, etwas auszuholen und über sich und ihre Lebenssituation zu erzählen, über ihre Vorstellung betreffend ihr Symptom / Problem und dessen psychosoziale Ein- und Auswirkungen, über ihre Befürchtungen und Erwartungen? – Eine «Langversion», die in der Regel viel weniger Zeit kostet als wir unter dem Druck einer streng getakteten Sprechstunde «befürchten» müssen.
Der Nutzen für uns Ärzt:innen und Patient:innen ist jedoch gross. Neben dem Gewinn von vertieften Informationen zum Kontext des Symptoms / Problems fördert unser echtes empathisches menschliches Interesse die professionelle Beziehung zwischen Ärzt:in und Patient:in und das gegenseitige Vertrauen. – Beziehung und Vertrauen sind das Fundament für einen gelingenden therapeutischen Prozess, der Patient:innen echt einbezieht und bestgeeignete Lösungen für sie und ihre Situation eröffnet.
***
«Wie geht es mir?»
Stellen wir uns selbst diese Frage auch regelmässig? Und meinen wir damit nicht nur die «Kurzversion» einer Antwort: «Es geht mir gut». Sondern die «Langversion» mit erweiternden und vertiefenden Zusatzfragen? Wie geht es mir selbst im Rahmen meines persönlichen, beruflichen und sozialen Lebenskontextes? Reflektiere ich während meines Arbeitstages bei der Vorbereitung jeder Konsultation, wie es mir selbst geht betreffend meine Rolle und mein Verhältnis zu den Patient:innen, denen ich begegnen werde, und betreffend unsere gemeinsame Geschichte? Nach der Konsultation, wie sie fachlich und interpersonell verlaufen ist, wie ich mich gegenüber den verabschiedeten Patient:innen, ihren Anliegen und unseren Vereinbarungen fühle? Ob etwas in mir belastend nachhängt, das ich selbst oder zusammen mit den Patient:innen in der nächsten Konsultation klären muss? Falls nötig, habe ich einen Ort, wo ich persönliche Belastungen in sicherem und vertraulichem Rahmen besprechen und nach einer Lösung suchen kann? Bin ich selbst ernsthaft auf meinem Radar?
***
«Wie geht es Ihnen? Wie geht es mir?»
Geben wir für die Antwort, wenn immer möglich, der «Langversion» den Vorrang! Üben wir auf diese Weise unsere innere Gelassenheit und entschleunigen den hektischen beruflichen Alltag!
Mit achtsam eingesetzter Zeit nützen wir unseren Patient:innen und uns selbst, zu beider Zufriedenheit – und gewinnen damit letztendlich Zeit. Eine gute Prophylaxe, damit wir nicht ausbrennen in einem in mancher Hinsicht nicht überbordend erfreulichen Umfeld.
Bruno Kissling, Hausarzt im Ruhestand