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Das Magazin der Berner Haus- und Kinderärzt:innen

Lesedauer ca. 4 Min.

Grenzen der Medizin

Carte Blanche

Grenzen der Medizin

Die Medizin stösst an ihre Grenzen. Es fehlt an Fachpersonen - auf allen Ebenen und auf unabsehbare Zeit. Und sie kostet (zu) viel. Nach politischen Lösungen wird gerungen, bisher erfolglos. Wir Ärztinnen und Ärzte sind selbst gefordert, die Medizin nachhaltig zu gestalten und zu redimensionieren.

Schauen wir knapp 100 Jahre zurück. Damals erlitten Menschen in vergleichsweise jungem Alter eine Herzinsuffizienz, Herzinfarkte, Schlaganfälle, Hirnblutungen oder Nierenversagen. Sie starben daran oder blieben lebenslang behindert. Die Bedeutung des Bluthochdrucks als wesentliche Ursache war noch nicht wirklich bekannt. 

Ohnehin konnte der Blutdruck erst ab Beginn des 20. Jahrhunderts – dank Entdeckungen von Riva-Rocci und Korotkof – mit einer Arm-Manchette und einem Quecksilbermanometer unblutig und alltagstauglich gemessen werden. Erste Medikamente mit diuretischer Wirkung konnten den hypertonen Blutdruck senken. Mit dieser Behandlung konnte die Krankheitslast vermindert werden. Ein bemerkenswerter Erfolg der modernen Medizin.

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Durch diesen Erfolg ermuntert und beflügelt durch Statistiken intensiver klinischer Forschung wurden die anzustrebenden Blutdruck-Normwerte immer weiter gesenkt. Die Menschen mit behandlungsbedürftiger Hypertonie wurden so zahlreich, dass sie heutzutage ab einem gewissen Lebensalter die Mehrzahl der Bevölkerung bilden. 

Diese strengen Zielwerte können dank neuer Medikamente erreicht werden. Nicht selten allerdings erst mit einer geeigneten Kombination, die mit vielen medizinischen Kontrollen aufwändig gesucht werden muss. Und diese haben teils gefährliche Nebenwirkungen. 

Der präventive Zusatznutzen einer intensivierten Therapie ist für den Patienten nicht spürbar. Er zeigt sich lediglich abstrakt in Statistiken, oft nur als minime Verbesserung in einem niedrigen einstelligen Prozentbereich. Wir befinden uns sehr weit rechts im flachen Bereich des Aufwand-Nutzen-Diagramms. Und unterhalb dieser Kurve verläuft eine oft vernachlässigte ansteigende Linie für Kollateralschäden der Therapie.

Neben diesem Beispiel mit der Hypertonie gibt es in allen medizinischen Fachgebieten zahllose weitere Themen mit einer ähnlichen Geschichte. Dies alles führt zu einer Verzerrung der Medizin. 

Wir Ärztinnen und Ärzte müssen uns immer mehr mit gesunden, oft sehr gesundheitsbedachten Personen beschäftigen, die ihr bereits geringes Krankheitsrisiko () noch weiter absenken möchten. Statt dass wir uns den Kranken widmen können, die uns wirklich nötig haben.

Diese Entwicklung führt direkt zu den Problemfeldern der heutigen Medizin: Verunsicherung und Ungewissheit bei den Patienten und Ärztinnen; Medizinalisierung von Lebenssituationen; Polypragmasie und Polypharmazie; Angst, etwas zu verpassen; Anspruchs- und Absicherungsverhalten; unnötige, nicht selten gefährliche oder schädliche Interventionen; hoher Erklärungs- und Rechtfertigungsbedarf; zusätzliche administrative Last; sehr viel Arbeit und ein hoher Personalaufwand / Personalmangel; hohe Kosten. 

Und trotz oder wegen alledem verlieren nicht wenige Menschen das Vertrauen in die Medizin.

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Die Gesundheitspolitik sucht seit Jahren nach Lösungen, vergeblich. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider will einen neuen Anlauf nehmen und zusammen mit allen Beteiligten nach gemeinsam tragfähigen Lösungen suchen.

Was kann die Medizin dazu beitragen, diesen Teufelskreis abzubremsen? «Smarter medicine» ist ein sehr guter Ansatz. Sie hinterfragt häufige, oft «halbautomatisch» angewendete Analysen und Therapien mit fraglichem Nutzen und / oder einem ungünstigen Wirkungs- / Schädigungspotential. Mit ihrem fokalen Blick geht sie allerdings nicht weit genug.

Wir müssen den Mut aufbringen, die Grenzen der Medizin mit tiefergreifenden Massnahmen zu verschieben. Beispielsweise durch – wissenschaftlich begleitetes – Anheben von Normwerten und eine neue Klärung von Indikationskriterien, auf deren Basis wir heute unsere Behandlungen empfehlen.

So kämen weniger Menschen in einen behandlungsbedürftigen Bereich. Geringgradig höheren Risiken stünden weniger unerwünschte Wirkungen gegenüber.

Wir Ärztinnen und Ärzte können die in manchen Bereichen «hypertrophisierte» Medizin, die uns alle überfordert und das Gesundheitssystem ins Wanken bringt, in eine «gute» Medizin mit einer neuen Qualität redimensionieren.

Bruno Kissling, Hausarzt im Ruhestand