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Das Magazin der Berner Haus- und Kinderärzt:innen

Lesedauer ca. 4 Min.

Zwischen Statistik und Realität

Zwischen Statistik und Realität

Fast zeitgleich wie das Obsan von der überdurchschnittlichen Zufriedenheit der ärztlichen Grundversorger:innen berichtete, machte ein Magazin-Artikel auf den erschöpfenden und frustrierenden Alltag einer Hausärztin aus Burgdorf aufmerksam. Verwirrend? Ja, aber noch verwirrender ist: Es stimmt beides.

Im Februar sind innerhalb von nur wenigen Tagen zwei Publikationen erschienen, die für Aufsehen sorgten. Nicht wenige rieben sich ob dem eben Gelesenen die Augen. Da war einerseits von einer Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) über «Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung – Situation in der Schweiz und im internationalen Vergleich» zu lesen. Statistiken, Daten, Zahlen, eine Vermessung der Grundversorger:innen, deren Grundtenor lautete: Verglichen mit anderen Ländern ist in der Schweiz alles ok, die Hausärzt:innen sind zufrieden. 

Wenige Tage später lesen wir andererseits einen Text von Ivo Knill im Magazin des Tagesanzeigers: «Verzweifelt gesucht: Hausärztin». Es ist eine berührende Reportage über den erschöpfenden Praxisalltag einer Hausärztin, seiner Frau, ein empathischer Blick auf ihre Realität und die schwierigen Rahmenbedingungen für ihren Beruf. Das Fazit nach der Lektüre: Ein Leben am Rand der Erschöpfung.

Zufriedene Grundversorger:innen in der Schweiz

Die besagte Obsan-Studie beleuchtet zahlreiche Aspekte der Grundversorgung und noch viel mehr Daten und Statistiken. Durchaus differenziert. Die Berichterstattung über die grosse Auslegeordnung konzentrierte sich indes vornehmlich auf einen Punkt: die Zufriedenheit der Hausärzt:innen in der Schweiz. «Die allgemeine Zufriedenheit mit der eigenen Praxistätigkeit fällt in der Schweiz am höchsten aus», heisst es da. Und weiter: «Was die Zufriedenheit mit dem Einkommen, der verfügbaren Zeit pro Patientin und Patient, dem täglichen Arbeitspensum und der Work-Life-Balance anbelangt, so zeigen die Ärztinnen und Ärzte der Schweiz ein international vergleichsweise hohes Niveau.»

Jammern auf hohem Niveau?

Die Daten sagen das, das ist richtig. Verglichen wird mit Australien, Kanada, Deutschland, Frankreich, Holland, Neuseeland, Schweden, Grossbritannien und den USA. Was die Daten weiter sagen: In keinem dieser Länder wird die Gesamtleistung des Gesundheitssystems von den Grundversorger:innen auch nur annähernd als so gut bewertet wie in der Schweiz. So passiert es im Nachgang zur Publikation nicht selten, dass man im Gespräch mit Politiker:innen auf ebendiese Obsan-Studie angesprochen wird: So schlimm sei es ja gar nicht, heisst es dann bisweilen. Die Hausärzt:innen in der Schweiz jammern auf hohem Niveau, denn verglichen mit anderen sehe es bei uns doch gut aus.

Leben am Rande der Erschöpfung

In krassem Gegensatz dazu steht der von Ivo Knill beschriebene Praxisalltag seiner Frau. Sie ist Hausärztin in Burgdorf. Dort sind sie viel zu wenige, sie finden keine Nachfolger:innen, kämpfen mit hohen Notfalldienstbelastungen und 70-Stundenwochen, mit viel und immer mehr unnötiger Bürokratie. Und täglich mit dem bedrückenden Gefühl, ihren Patient:innen nicht mehr gerecht zu werden, weil es schlicht und einfach an Zeit mangelt, sich um alle und alles zu kümmern. Der Text schildert eindrücklich viele der Baustellen, mit denen die Haus- und Kinderärzt:innen konfrontiert sind. Sie sind seit Jahren bekannt und benannt. Und sie stehen im Kontrast zur relativen statistischen Zufriedenheit, wie sie das Obsan berichtet.

Licht am Ende des Tunnels?

Statistisch betrachtet ist Burgdorf ein Einzelfall, natürlich. Aber deswegen ist Burgdorf noch lange nicht der einzige Fall. Denn: Burdorf ist eigentlich überall. Es gibt Anlass zur Annahme, dass sich heute wieder mehr Studierende für die Hausarztmedizin entscheiden. Das bekundete Interesse steigt. Das ist sehr erfreulich und bietet eine Perspektive. Bis dieser Nachwuchs in den Praxen ankommt, dauert es aber erstens eine Weile. Und zweitens ist davon auszugehen, dass es noch einige Hausärzt:innen und Kinderärzt:innen mehr brauchen wird, um die gesamte Workforce jener Generation zu ersetzen, die sich in den nächsten Jahren aus den Praxen zurückzieht.

Der Blick über die Landesgrenzen, der Vergleich mit anderen Systemen, die Analyse von grossen Datenmengen, all das bringt zwar wertvolle Erkenntnisse, Hinweise auf die grossen Linien. Die konkrete Versorgung aber passiert vor Ort, lokal und in Regionen. Dort findet man viel zufriedene Haus- und Kinderärzt:innen, und die allermeisten von ihnen würden den Beruf, ihren Traumberuf, wieder wählen. Aber wir finden dort, wie in Burgdorf, eben auch die Spuren der Versäumnisse der letzten Jahre, als man es verpasst hatte, die Versorgung langfristig zu sichern.

Zwei Botschaften lassen sich daraus ableiten. Die eine, positive, richtet sich an den künftigen Nachwuchs, und sie lautet: Wer Hausarzt oder Kinderärztin werden möchte, hat noch immer sehr gute Chancen, damit eine zufriedenstellende und sinnstiftende Berufswahl zu treffen. Die andere geht unverdrossen an die politischen Verantwortlichen: Ohne wirksame Reformen jenseits von reinen Austeritätsmantras müssen einzelne Regionen mit ernsthaften und schmerzlichen Versorgungsengpässen rechnen.