Carte Blanche
Die Konsultation und ihr (un)genutztes Potential
Die Konsultation ist das wichtigste Instrument unseres ärztlichen Tuns. Ihr wohnt eine eigene therapeutische Wirkung inne. Damit sie diese zielorientiert und personenbezogen entfalten kann, stellt sie einige Anforderungen, die weit über die medizinisch-technischen Belange hinausgehen.
Lasst uns eine Selbstbeobachtung machen. Liebe Hausarztkollegin, lieber Hausarztkollege, wann warst du, wie ich, zuletzt selbst auf der anderen Seite des Gesundheitssystems, als Patientin oder Patient? Nein, nicht wegen eines leichten grippalen Infekts. Ich meine, wegen eines gesundheitlichen Problems, das du selbst nicht einschätzen konntest, das dich mit zunehmender Dauer so sehr verunsichert hat, dass du ärztliche Hilfe suchen musstest.
Idealerweise bei deiner Hausärztin oder deinem Hausarzt. Vielleicht aber hast du den hausärztlichen Part selber erledigen wollen und dich direkt bei einer Spezialärztin angemeldet, weil du geglaubt hast, dass dein Problem in deren Kompetenzbereich falle – eine «Abkürzung», die vielleicht gut ausging, aber leicht zu einer unglücklichen Überweisungskaskade geführt haben könnte.
Ich selber konnte im Verlauf der letzten beiden Jahre einige bemerkenswerte Erfahrungen als Patient machen. Zum Beispiel war ich erstaunt, wie lange es gedauert hat, bis ich mich endlich überwunden hatte, zum Arzt zu gehen.
Was Ungewissheit und Ambivalenz während dieses Entscheidungsprozesses in mir ausgelöst hatten. Was ich alles an mir beobachten konnte und mir durch den Kopf gegangen war. Welch (un)möglichen Wirklichkeiten ich konstruiert hatte. Welche angststeigernde «Worst-Case-Szenarien» ich spintisiert und (halbwegs) wieder verworfen hatte. Wie hilflos überwältigt ich war von den besorgten und manchmal auch spannungsgeladenen Interaktionen, die sich zwischen mir und meiner Familie abgespielt haben…
Anlässlich der Konsultationen habe ich gespürt, wie gut und vertrauensbildend sich die empathische Art der Ärzt:innen anfühlt. Es hat mich beeindruckt, wie zügig sie sich durch meine Symptome gefragt haben und wie rasch wir gemeinsam beschlossen haben, wie es medizinisch-diagnostisch und therapeutisch weitergehen soll. Am Ende der Sprechstunden war ich jeweils zufrieden. Alles war korrekt verlaufen.
Ich fand, es waren gute Konsultationen. Einzig, der Zeitdruck. Der war für beide, Arzt und Patient, fast ständig spürbar und hat sich, wie soll ich es sagen, beschleunigend auf die Konsultationen ausgewirkt. Es wäre für mich hilfreich gewesen, wenn mir die Ärzt:innen zu Beginn der Konsultation mitgeteilt hätten, wie viel Zeit eingeplant ist.
Falls auch du Patientin oder Patient warst, könnte es dir vielleicht ähnlich ergangen sein wie mir. Trotz anfänglicher Zufriedenheit könntest du bald danach ein gewisses Unbehagen gespürt haben. Es könnte dir vielleicht aufgefallen sein, dass ihr euch – auch wenn dies zweifellos sehr wichtig ist - (fast) ausschliesslich auf die medizinisch-technischen Aspekte deines Symptoms fokussiert habt.
Du könntest realisiert haben, dass du mit der Ärztin nicht alles besprechen konntest, was dir wesentlich erschien. Du könntest plötzlich unsicher geworden sein, ob sie wirklich verstanden hat, was du ihr mit deinen Worten mitteilen wolltest. Es könnte dir aufgefallen sein, dass ihr nicht darüber gesprochen habt, was sich im Zusammenhang mit deinem medizinischen Symptom sonst noch abgespielt hat und für dich bedeutungsvoll war.
Beispielsweise welche Vorstellungen du dir über das Symptom und dessen Zustandekommen gemacht hattest. Welche Auswirkungen es auf dich und deine Umwelt hatte und wie es von aussen beeinflusst wurde. Was schliesslich der Auslöser war, dass du dich für eine Konsultation angemeldet hast. Weshalb du gerade sie als deine Ärztin ausgewählt hast.
Es könnte dir im Nachhinein auch aufgefallen sein, dass du deine Befürchtungen und Ängste nicht anbringen konntest, und dass auch die «Worst-Case-Szenarien», die dir durch den Kopf gegangen waren, unausgesprochen blieben: die Sorgen um deine Familie, deine Berufstätigkeit, wirtschaftliche Auswirkungen, vielleicht um dein Leben. Auch hättest du der Ärztin gerne sagen wollen, was du von ihr erwartest – wenn sie dich danach gefragt hätte…
All die Elemente eben, die für dich als von einer Krankheit betroffenen Menschen so bedeutsame «hard facts» sind und dein vielleicht nicht einmal besonders aussergewöhnliches medizinisches Problem so einzigartig machen - die von der Medizin aber als «soft facts» betrachtet werden und leider allzu oft auf der Strecke bleiben.
Sind dies nicht wertvolle Erfahrungen, um die umfassenden Anliegen der eigenen Patient:innen besser zu verstehen? Denn ihnen allen ergeht es genau wie dir und mir. Eine gute Gelegenheit also, das eigene ärztliche Handeln, über die medizinischen Aspekte hinaus, zu betrachten und den umfassenden Einbezug des Patienten in der Konsultation zu reflektieren.
Zu zeitaufwändig? Der Zeitaufwand ist geringer, als man denken würde. Vielmehr ist es eine Zeit-Investition, die sich lohnt. Es kommt zu angemesseneren Lösungen sowie weniger unnötigen und belastenden diagnostischen und therapeutischen Um- und Irrwegen. Die Patient:innen – und auch die Ärzte - sind (noch) zufriedener.
Bruno Kissling, Hausarzt im Ruhestand und Patient
PS: Mehr Praktisches und Theoretisches zu diesem komplexen Thema findest du im Buch «Die ärztliche Konsultation - systemisch-lösungsorientiert», Bruno Kissling, Peter Ryser, 2019, im Buchhandel erhältlich.